Hallo und herzlich willkommen zum "Walk on the Wild Side", in dem wir dir die Lebensumstände eines Obdachlosen in Kassel näher bringen möchten. Unser Spaziergang umfasst ca. 30 Minuten reine Laufzeit und ist 2,6 Kilometer lang.
Auf dem Weg wollen wir uns in die Situation eines Obdachlosen versetzen und Orte in der Innenstadt von Kassel aus der Sicht eines Menschen ohne Wohnung betrachten.
Wenn du ein Smartphone hast, das Google Maps fähig ist, starte die Route über den Link und klicke dann auf unserer Webseite auf die einzelnen Stationen, um einen kurzen Audiobeitrag mit den wichtigsten Infos zu hören:
Intro
Station 1: Hauptbahnhof
Station 2: Lutherplatz
Station 3: Martinskirche
Station 4: Treppenstraße/Königsstraße
Station 5: Rathaus
Station 6: Panama
22:34 Uhr kommt der RE 9 aus Eichenberg in Kassel an. Ich steige aus dem Zug und laufe über den Bahnsteig durch den Bahnhof auf den Vorplatz - der Rainer Dierichs Platz. Rainer Dierichs ist der Gründer der Zeitung auf der ich mein Haupt in der näheren Zukunft nachts öfter betten könnte - der HNA. Ich bin obdachlos und habe mir Kassel als neuen Wohnort ausgesucht (wobei Wohnort in meinem Fall nichts mit Wohnung zu tun hat). Ich komme heute Abend mit der Regionalbahn aus Thüringen am Hauptbahnhof an.
23:00 Uhr Ich stehe auf dem Vorplatz des Bahnhofs und schaue in den klaren Nachthimmel.
Der Himmelsstürmer setzt unbeirrt seinen Weg nach oben fort während ich ihm bewundernd zunicke. Da ich weiter hier am Boden bleiben werde sollte ich mir einen Platz für die Nacht suchen. Ich drehe eine Runde durch den Bahnhof und halte nach einem Schlafplatz Ausschau. Hier gibt es weder Warteraum noch irgendeine andere Rückzugsmöglichkeit. Auf den Bahnsteigen sind Bänke, doch dort ist es kalt und zugig. Nicht sehr einladend.
Vor dem Passbildautomaten in der Halle könnte ich Glück haben. Es gibt zwei Möglichkeiten bei der Auswahl des Schlafplatzes (auch Platte genannt). Entweder man sucht sich einen möglichst abgelegenen Platz zum Schlafen oder einen für alle Vorbeigehenden sichtbaren Platz in der Hoffnung auf Schutz vor Angriffen durch die Öffentlichkeit. Hier im Bahnhof geht das vielleicht bis 5 Uhr morgens gut. Dann beginnt der Berufsverkehr und die Bahnhofspolizei wird mich vielleicht wegschicken. Ich breite meine Isomatte auf dem Marmorboden aus und lege mich hin.
6:00 Uhr Ich sitze auf der Bank vor dem Bahnhof. Das Burger King im Bahnhof macht erst um 10 auf. Für einen Kaffee beim Bäcker im Bahnhof reicht das Geld noch. Ich sehe mir die Menschen an, die aus dem Bahnhof kommen und warte.
10:00 Uhr Ich muss zwischendurch eingenickt sein. Jetzt kann ich endlich zu Burger King auf die Toilette gehen. Schade, dass ich nicht mehr genug Geld für einen Burger habe.
10:15 Uhr Ich mache mich auf den Weg und schaue mir Kassel an. Mein erstes Ziel ist der Lutherplatz. Am Hotel Reiss auf meiner linken Seite vorbei führt die Werner Hilpert Str. hinunter zur Lutherkirche, wo ich über die Rudolph Schwander Str. hinüber zum Lutherplatz laufe.
Das Wetter ist gut heute. Auf einer Bank direkt vor der Lutherkirche spreche ich einen Mann mit einer Flasche in der Hand an. Zusammen mit seinem Einkaufswagen, in dem seine gesamte Habe ist schnell klar, er lebt auch auf der Straße. Er heißt Manfred. Er erzählt mir, dass der Lutherplatz der Treffpunkt der Drogenszene ist. Hier steht das Trafohäuschen, das seit Jahren Treffpunkt der Szene ist. Neben der Kirche gibt es ein Gebüsch, in dem schon obdachlose Menschen länger gelebt haben. Das wäre mir zu gefährlich. Da es am Lutherplatz viele Drogenabhängige gibt, sind hier in der Nähe auch einige Hilfsangebote.
Tagsüber kann man ins „Café Nautilus“ gehen; dort gibt es was zu essen und man kann Spritzen tauschen. Im Winter gibt es dort außerdem eine Notschlafstelle, aber eben nur für Drogenabhängige. Die Streetworker der Drogenhilfe kommen aber auch hierher und nehmen in der Stadt Kontakt zu den Drogenabhängigen auf.
Natürlich leben nicht alle Drogenabhängigen auf der Straße und nicht alle Wohnungslosen sind drogenabhängig. Die Gründe dafür, ohne festen Wohnsitz zu leben sind so verschieden wie die Menschen selbst.
Alex zum Beispiel, der uns jetzt von sich erzählt ist wohnungslos und hat weder Alkohol- noch andere Drogenprobleme. Im Gegenteil, er hat streckenweise recht erfolgreich als Handwerker mit eigenem Betrieb gearbeitet und erzählt uns kurz, wie er dazu kam, alles aufzugeben und „loszuziehn“.
Danke, Alex für deinen Beitrag und deine Offenheit. Auch wir wollen jetzt losziehen und die nächste Station ansteuern. Manfred gab mir einen guten Tip wo ich eine kostenlose warme Mahlzeit bekomme. Es geht zur Martinskirche, die wir fussläufig in wenigen Minuten erreichen.
Hier gibt es 2x in der Woche auf dem Platz vor der Kirche Suppe umsonst. Nicht nur Wohnungslose, sondern auch viele arme Menschen nutzen das Angebot, das Montags zwischen 13 und 14 Uhr von den Fahrenden Ärzten und Donnerstags zwischen 14 und 15 Uhr von der Heilsarmee angeboten wird. Da ich gerade kein Geld mehr habe und mir nicht mal was zu essen kaufen kann, hilft mir das sehr! Erfahre hier, dass es in KS ein Sozialcenter der Heilsarmee gibt. Dort können Wohnungslose wie ich übernachten. Die Pforte ist auch rund um die Uhr besetzt.
Jemand erklärt mir den Weg zum Rathaus. Da versuche ich gleich mein Glück, ob ich für heute noch den Tagessatz bekommen kann. Wer, wie ich, nirgends wohnt und auch kein Konto hat, hat trotzdem Anspruch auf Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld II („Hartz 4“) oder Grundsicherung!
Der Weg zum Rathaus führt über durch die Königsstraße an der Treppenstraße vorbei, die unsere nächste Station ist.
Station 4: Treppenstraße/Königsstraße
In der Königsstraße sehe ich vor dem Müller zwei Straßenmusiker und an einigen Orten Kollegen, die gerade eine „Sitzung machen“ oder mit anderen Worten betteln.
Wahrscheinlich sind nicht alle davon ofW, sowas sehe ich. Am Ruru-Haus sitzen gleich mehrere Jungs. So wie es aussieht, schlafen sie wahrscheinlich sogar hier. Gut, in der Gruppe kann man gegenseitig auf sich und das Hab und Gut aufpassen. Habe aber die Erfahrung gemacht, dass es immer mal zu Streit kommen kann – kein Wunder, wenn man permanent Wind und Wetter ausgesetzt ist und jeder mit der Existenzsicherung beschäftig ist – deshalb ziehe ich lieber alleine rum.
Wäre mir auch zu exponiert! Da ich dringend Geld auftreiben muss, um mich für die nächsten Tage zu ernähren laufe ich weiter zum Rathaus.
Hier schickt mich der Pförtner zur „Zentralen Fachstelle Wohnen“. Das ist die Behörde, die sich darum kümmert, dass in Kassel kein Bürger auf der Straße schlafen muss, wenn er seine Wohnung verliert. Dafür hat die Stadt Notwohnungen angemietet, in denen man übergangsweise ein Zimmer bekommen kann.
Leider bin ich aber kein Kasseler Bürger, weil ich meine letzte Wohnung in einer anderen Stadt hatte… Man verweist für die Übernachtung an die Heilsarmee und rät mir, zum „Panama“ zu gehen, einer Tagesaufenthaltsstätte für Wohnungslose. Dort im Haus wird wohl auch der Tagessatz ausgezahlt. Das wundert mich, denn das macht normalerweise das Sozialamt, und das ist ja auch im Rathaus? Man erklärt mir, dass es im selben Haus, in dem das Panama ist, auch eine Außenstelle des Sozialamtes gibt. So haben „Durchreisende“ wie ich kürzere Wege – klingt ja nicht schlecht!
Und jetzt lassen wir mal Alex erzählen, wie das bei ihm war, als er in Kassel ankam…
Jetzt bin ich ja wieder fast da, wo ich angefangen habe – hätte ich das gewusst, hätte ich mir den Umweg sparen können!
Ich gehe zuerst, wie erklärt, zur Holztür und hoch in den 1. Stock zur Beratungsstelle. Dort schildere ich dem Sozialarbeiter meine Situation. Hier werde ich gut beraten, was meine Möglichkeiten sind und erhalte alle Informationen, die für mich wichtig sind. Auch einen Schlafsack bekomme ich. Und zwar einen Guten, der auch in kalten Nächten warm hält. Nebenan bekomme ich dann den Tagessatz ausgezahlt. Nun kann ich runter ins Panama gehen.
Hier gibt es ein Frühstücksbuffet, und ein Speiseplan verspricht für die ganze Woche leckeres Mittagessen für 1,50 €. An der Infothek sind 2 Sozialarbeiter*innen, die man jederzeit ansprechen kann. Finde es aber angenehm, dass ich erstmal ankommen und die Atmosphäre schnuppern kann, ohne dass mich gleich jemand „belagert“. Die anderen Besucher erzählen mir auch nach und nach, was für Hilfen ich hier bekommen kann: Es gibt ein großes Bad – das klingt verlockend, denn meine letzte Dusche ist ein paar Tage her und der Tag war anstrengend. Meine Wäsche kann ich hier auch waschen lassen, und wenn ich was zum Anziehen brauche, kann ich die kostenlose Kleiderkammer nutzen.
Andere Besucher berichten, dass sie hier eine Postadresse haben. Klar, wenn ich keine Wohnung habe, bin ich auch postalisch nicht erreichbar. Einige erzählen, dass sie – wie ich - kein eigenes Konto haben. Sie haben hier ein „Verwahrgeldkonto“ und können an 3 Tagen in der Woche zur Auszahlung kommen. Auch Schuldnerberatung gibt es hier.
Einige berichten, sie seien vor Jahren wohnungslos gewesen und hätten hier Hilfe bekommen, sie waren oder sind im Betreuten Wohnen bei Mitarbeitenden der Sozialen Hilfe. Einer erzählt, dass es hier im Winter auch Notschlafstellen gibt, für Menschen, die aus verschiedenen Gründen nicht in die Heilsarmee können.
Alex, den ich hier getroffen habe, frage ich noch, wie er seine Zukunft sieht und ob er wieder eine Wohnung möchte.
Hier endet unser kleiner „Walk on the wild side“. Danke, dass du dabei warst.